Lena, 16, hat schon länger einen Freund, Tim, 17, mit dem sie über alles reden kann. Lena und Tim fühlen sich beide in ihrer Familie nicht wohl. Die Eltern sind sehr mit sich selbst beschäftigt. Lena’s Vater hatte letztes Jahr ein Burnout. Tim’s Eltern streiten viel. Es interessiert eigentlich niemanden, wie es Lena und Tim geht. Wenn die Eltern mal fragen, wie es so läuft, sagen beide:„Gut“.
Tim und Lena können wirklich gut reden miteinander: über Jungs, Mädchen, Stress in der Schule, depressive Stimmung, die manchmal auftaucht. Tim und Lena sind „best friends“ und vertrauen einander. Das Kuscheln beim Filmabend fühlt sich gut an – und irgendwann passiert „es“. Verliebt sind sie nicht. Lena ist nämlich in Marco verliebt und Tim hat ein Auge auf Sarah geworfen. So einigen sich Tim und Lena auf „Freundschaft plus“.
Freundschaft plus – spätestens seit dem gleichnamigen Film aus dem Jahr 2011 ist dieses neue Beziehungsmodell zum Thema geworden. Ist «Freundschaft plus» das perfekte Beziehungsmodell für Menschen, die keine Verpflichtungen eingehen möchten? Oder ist dieses „Sex-ohne-Verliebtheit–Modell“ irgendwann sowieso zum Scheitern verurteilt? Wo liegen die Unterschiede zu einer «normalen» Beziehung?
„Freundschaft plus“ zeichnet sich durch folgendes aus:
- Zwei gute «Freunde» haben Sex miteinander ohne gegenseitige «Verpflichtungen».
- Die «Freunde» treffen sich einfach dann, wenn sie Lust haben.
- Es ist «erlaubt», auch mit anderen zu «flirten».
- Man hat nicht nur Sex, sondern auch gute Gespräche zusammen
- Es gibt keine Eifersuchtsdramen, man ist immer noch «frei».
- Man ist «offiziell» nicht zusammen.
Klingt das nicht nach einer unkomplizierten Form des Zusammenseins ohne Beziehungsstress, Angst vor Zurückweisung, Verlustängsten? Und doch….
So sehr sich «beste Freunde» einreden mögen, dass sie gut zwischen Liebe und Sex trennen können, um einfach eine unbeschwerte Zeit zu geniessen, stellen sich bei vielen dann doch irgendwann Gefühle ein.
Das hat übrigens auch mit einem Hormon zu tun. Mit dem sog. „Kuschelhormon“ Oxitocin, das bereits bei einer zärtlichen Umarmung und auch beim Sex ausgeschüttet wird. Es sorgt u.a. dafür, dass wir einem anderen Menschen vertrauen und uns an ihn binden können.
Bedeutet das also, dass sich in einer «Freundschaft plus» früher oder später automatisch Gefühle einstellen und das Risiko, verletzt und enttäuscht zu werden, genauso vorhanden ist, wie in einer normalen «Liebesbeziehung»? Ist «Freundschaft plus» also eine Gratwanderung mit Risiken, die genauso wie eine «normale Liebesbeziehung» ehrliche Gespräche verlangt, damit sie gelingt ?
Vielleicht ist „Freundschaft plus“ einfach ein Ausweichmanöver, das davor schützen soll, sich mit eigenen Ängsten auseinander setzen zu müssen? Ängste, die früher oder später sowieso zum Vorschein kommen werden? Denn Nähe und Intimität können auch verletzlich machen und z.B. Verlustängste und Eifersucht auslösen.
Vielleicht ist die Vertrautheit unter den «Freunden» aber auch einfach zu gross, so dass sich keine Verliebtheit und echte Intimität einstellen mag. Und dadurch Erotik und Sex auf unkomplizierte Weise stattfinden kann – ohne den ganzen Beziehungsstress.
Könnte «Freundschaft plus» also eine gute Zwischenlösung sein, bis Mr. oder Mrs. Right erscheint ? Eine Beziehung ohne Verpflichtungen, welche die Angst mindert, die Freundschaft durch eine richtige Liebesbeziehung zu gefährden?
Eines ist für mich ganz klar: Freundschaft und Liebe können uns durch manche Stürme des Lebens tragen. Deswegen ist es auf jeden Fall wichtig, dass wir sorgfältig und achtsam mit uns selbst und anderen umgehen – und uns selbst treu bleiben.
Deine Meinung interessiert uns! Diskutiere mit:
- Ist „Freundschaft plus“ eine gute Alternative zu einer „normalen“ Liebesbeziehung ?
- Oder ist sie irgendwann sowieso zum Scheitern verurteilt?
- Ist das Risiko, verletzt zu werden, tatsächlich kleiner bei einer « Freundschaft plus»?
Bettina Weilenmann, Psychologin, Psychotherapeutin
Samowar Jugendberatung für den Bezirk Horgen